Es gibt Dinge, die sind nicht besonders klug und
manche machen sie trotzdem: Teller anfassen, von denen man weiß, dass sie heiß
sind. Silvester-Feuerwerk aus der Hand abfeuern. Bei 1860 München investieren.
Seinen Zimmergenossen hochheben und mit ihm in den Armen über steinharten
Asphalt sprinten.
Letzteres jedenfalls ist das jüngste aus dieser
Reihe, was sich in meinem Leben zugetragen hat. Einen Sturz später stellte ich
perplex fest, dass mein Daumen überhaupt nicht mehr dort war, wo er eigentlich
hingehört, sondern circa einen
Zentimeter nach oben und einen halben Zentimeter nach links verrückt. Nach 30
Sekunden starren und überlegen, ob nicht vielleicht alles nur Einbildung ist,
fasste ich den Entschluss, meinen Daumen und das zugehörige Gelenk wieder zu
vereinigen.
Damit war (nicht besonders überraschend) die
Geschichte aber noch nicht zu Ende. Bereits als ich wenige Stunden später zuhause
in meinem Zimmer war, hatte mein Daumen ungefähr die dreifache Größe
angeschwollen. Auf dem Foto aufgrund schlechter Qualität leider nur zu erahnen. Als ich am nächsten Tag aufwachte, kam zu der Schwellung noch
ein reiches Sammelsurium an Farben hinzu: rot, pink, blau, grün, lila und ein
bisschen schwarz. Während ich die Transformation meiner Hand in ein Kaleidoskop
durchaus interessant fand, so war ein Arztbesuch doch eventuell nicht die
schlechteste aller Ideen. Zumal einem erst wirklich auffällt wie häufig man
seinen rechten Daumen braucht, wenn man ihn nicht benutzen kann…
Doch wohin sollte ich gehen? Es war Samstag und
das Health Center auf dem Uni-Campus, eigentlich erste Anlaufstelle, war
geschlossen. So war ich auf einmal ein Teil des wunderbaren amerikanischen
Gesundheitssystems. Auch ein Element aus der Reihe „nicht besonders klug, aber
manche machen es trotzdem“.
Zunächst wusste ich nicht, wofür meine
Versicherung (Pflicht als Student der University of Cincinnati) denn abseits
des Campus aufkommt, weswegen ich eine Dame des international office kontaktierte. Die sind in solchen Fällen meist
der Ansprechpartner. Die wusste es allerdings auch nicht und regte sich nur darüber
auf, dass das Health Center nur zu Bürozeiten arbeitete. Sie hat mir schließlich
empfohlen, nicht in die Notaufnahme zu gehen, weil „it’s expensive there. Too
expensive“. Danach nannte sie mir eine Art Tagesklinik-Kette, deren „Filialen“
allerdings nur aus einem Arzt bestehen. Die seien günstig. Auf der
Internetseite dieses Gesundheitsdienstleisters werden 38 (!) Versicherungen
gelistet, die akzeptiert werden. Wie man allein an der Zahl der akzeptierten
Versicherungen ablesen kann, ist der Markt sehr unübersichtlich. Viele
Programme sind lokal und werden sogar nur in einer Stadt angeboten. Dementsprechend
ändert sich die Liste nicht nur von Staat zu Staat, nein auch von Stadt zu
Stadt. Und jeder Plan ist anders aufgebaut. So funktioniert zum Beispiel die
Versicherung von Freunden aus einem anderen Austauschprogramm so, dass jeder
Arztbesuch pauschal 55$ kostet, aber damit alles abgedeckt ist.
Wie auch immer, meine Versicherung war Teil dieser
Liste. Was mir eigentlich nicht wirklich weiterhalf, denn ich hatte keine
Ahnung was das bedeutet. Ein garantierter Zuschuss? Medikamentenkostenübernahme
(Meine Fresse sind deutsche Wörter lang...)? Übernahme sämtlicher Kosten? Ich
habe also meine Kreditkarte eingepackt und war auf alles gefasst.
Die „Klinik“ lag vertrauenserweckend in einem
großen Lebensmitteleinzelhandel (ernsthaft, waren deutsche Wörter schon immer
so lang?). Zudem war sie auf der anderen Seite des Ohio River in Kentucky
gelegen und mit öffentlichen Verkehrsmitteln kaum zu erreichen. Zum Glück kenne
ich inzwischen schon ein paar Leute, die über Autos verfügen.
Nach einem langwierigen Check-In fiel der
Belegschaft der Praxis auf, dass sie über kein Röntgengerät verfügen. Das
machte meinen Besuch in ihren Augen nicht unbedingt sinnvoll. Also wurde ich
weiter geschickt zu einem „urgent care“-Doktor tiefer in Kentucky. Der hatte
ein Röntgengerät. Noch einmal anmelden, Formulare ausfüllen, warten. Zum Glück
war mein Fahrer sehr geduldig.
Nach einigen Röntgenbildern und einem sehr unangenehmen „auf-geschwollenen-Stellen-Rumgedrücke“
seitens des Arztes wurde festgestellt dass nichts gebrochen ist (wenn auch
Mikro-Frakturen nicht unwahrscheinlich sind), mir eine Bandage angelegt und ein
schwellungs- und schmerzstillendes Medikament verordnet, das stark genug ist,
um in zwielichtigen tschechischen Bars als Aperitif gereicht zu werden. Bezahlen
musste ich nichts. Anscheinend ist meine Versicherung nicht allzu
schlecht. Oder in den nächsten Tagen bekomme ich eine Rechnung. Ich bin mir nicht
sicher.
Nachdem ich mir in der Apotheke um die Ecke
zwischen Milch, Dosensuppen und 100er Packungen Aspirin für 99Cent (ja,
amerikanische Apotheken sind etwas anders) das verschriebene Präparat
herausgesucht hatte bin ich nach einigen Stunden und einer Reise die wohl von
München bis zu den Alpen reichen würde wieder nach Hause gekommen. Die nächsten
Tage muss noch kühlen.
In Zukunft sollte ich aufpassen, dass ich mich nicht
mehr verletze. Und wenn, dann nur zu Bürozeiten.